Nun, wie soll ich es ausdrücken? Kurz gesagt: Ich existiere nicht. Zumindest nicht in der realen Welt. Wenn Sie meinen Namen bei Google eingeben, finden Sie nichts über mich. Keine E-Mail-Adresse. Kein Geburtsdatum. Keine Fotos. Keine Lieblingsrezepte oder Vorleiben betreffend irgendwelcher Haustiere oder Hobbys. Keine Presseartikel.
Ich besitze keinen Facebook-Account. Kein Twitter-Konto. Keine Instagram-Seite. Ich stehe nicht im Telefonbuch, weder online, noch gedruckt. Was kein Wunder ist. Ich besitze auch kein registriertes Telefon. Keine echte E-Mail-Adresse.
Nur ein Prepaid-Handy und eines von diesen kostenlosen E-Mail-Konten: kaspar.hauser@webonline-net.de. Natürlich ist Kaspar Hauser nicht mein richtiger Name. Aber das war Ihnen sicherlich sofort klar. Wenn Sie nämlich Kaspar Hauser bei Google eingeben, erhalten Sie etwa 2.350.000 Ergebnisse und nicht keines.
Aber warum ist das so, werden Sie vielleicht fragen. Warum verweigert er sich der modernen, digitalen Welt? Wenn ich recht überlege, werden Sie sich allerdings mehr nach dem "Wie" fragen, denn nach dem "Warum". Wie schafft der Kerl das nur, keine Spuren im Netz zu hinterlassen?
Nun, das ist einfach. Ich nutze das Netz nicht nicht. Nur nicht mit meiner richtigen Identität. Und das funktioniert. Denn niemand kennt meinen richtigen Namen. Und da wären wir auch schon bei dem Knackpunkt an der ganzen Sache: Ich kenne ihn auch nicht. Meinen richtigen Namen.
Ich wurde gefunden. Vor der Notaufnahme eines Krankenhauses. Zerlumpt, verwirrt, orientierungslos, gedächtnislos. Das ist jetzt gut 10 Jahre her. Die Ärzte schätzten mein Alter auf 17 bis 19. Also wurde es auf 18 festgelegt. Praktisch. Nicht nur für mich, sondern auch für die Behörden. Immerhin brauchten sie sich so nicht mit einem Minderjährigen herumschlagen.
Das Sozialamt war so freundlich, mir die ärztliche Behandlung und eine Grundausstattung an Kleidung zu spendieren. Wenig einfallsreich wurde ich dort unter dem Namen Max Mustermann geführt.
Natürlich haben sie mich getestet. Immer und immer wieder. Niemand hat mir geglaubt, dass ich mich nicht an meine Identität erinnern kann. Sie unterstellten mir Simulation. Doch irgendwann mussten sie es einsehen, akzeptieren. Irgendwann fanden sich Ärzte und Psychologen, die es eingesehen, akzeptiert haben. Und so kam schließlich der Schlussgutachter, ein gewisser Prof. Dr. Řeinhard zu folgendem Ergebnis:
„Es liegt ohne jeden Zweifel ein völliger Identitätsverlust vor, welcher semantisch autobiographische Informationen mit einbezieht, wobei der Patient sich z. B. an seinen Namen, sein Geburtsdatum und seine Herkunft nicht erinnert. Dies weist auf eine dissoziative Gedächtnisstörung hin (ICD-10: F44.0) hin. Ob der Zustand sich in absehbarer Zeit bessern wird oder kann ist derzeit nicht beurteilbar.“
Man fragte mich, wie ich gerne heißen würde, schließlich bräuchte ich einen Namen, eine Identität. Und eine Nationalität. War ich nun Deutscher? Nun, ich sprach Deutsch. Aber das tun Österreicher, Südtiroler und Schweizer – zumindest ansatzweise - auch. Ja, sogar in Namibia wird teils Deutsch gesprochen.
»Max Mustermann klingt gut«, antwortete ich schließlich. »Und ich denke, ich bin Deutscher. Immerhin spreche ich Deutsch.«
Max Mustermann ginge nicht, haben sie mir erklärt. Also Kaspar Hauser. Was anderes fiel mir nicht ein.
Nur an eines kann ich mich erinnern. An den Tag, an dem ich mein Gedächtnis verloren habe. Ein Samstag.
Eine Frau. Mittig zerteilt. Zwei Hälften. Links und rechts. Jeweils ein Bein, ein Arm, ein halber Brustkorb und ein halber Kopf. Das Sägeblatt der Tischkreissäge verteilt noch immer feine Blutspritzer über den ganzen Raum. Ein blauer Socken mit einem Pinguinmotiv an ihrem rechten Fuß. Ansonsten ist sie nackt. Sie ist Anfang Zwanzig. Älter wird sie nicht werden. Ihr linkes Auge zuckt noch. Wie bei einem Huhn, nachdem man es geköpft hat. Oder täusche ich mich?
Ich trage eine schwarze Schlachterschürze und Gummistiefel. Sonst nichts. Blut rinnt mir die Arme entlang. Tropft mir in den Mund. Der warme Lebenssaft verursacht mir wohlige Schauer.
In der großen Kunststoffwanne unter der Säge schwappt das Blut träge von Rand zu Rand.
Ich hänge die zwei Menschenhälften an die Metallhaken des Kettenlaufbandes an der Decke und rühre das Blut bis es kalt wird, damit es nicht gerinnt. Als es endlich abgekühlt ist, gebe ich etwas Salz hinzu, damit die rote Farbe intensiver wird. Den Teig aus Speck, gekochtem Fleisch, Zwiebeln und Gewürzen habe ich vorbereitet. Ich koche die Brühe auf und vermenge sie mit dem Fleischteig und dem gesiebten Blut. Ab in den Schweinedarm damit, abbinden und noch einmal bei 80° für 30 Minuten ziehen lassen. Währenddessen reinige ich den Schlachtraum, verpacke die Säge, dusche mich und ziehe meine Kleidung an.
Schade, dass ich das leckere Blut von mir abwaschen muss. Als die Würste fertig sind, lege ich sie ins Kühlhaus zu den anderen Blutwürsten.
Ich schalte das Laufband ein. Die Menschenhälften machen sich schaukelnd auf den Weg durch den Schlachthof. Am Montag wird sich sicher jemand freuen.
Als letzte Handlung des Tages liefere ich die bestellten Blutwürste aus. Die Familie wird sich sicherlich daran ergötzen, beim heutigen Schlachtfest ein Familienmitglied zu verspeisen. Zumindest Teile davon. Wenn sie es nur wüssten.
Sie freuen sich, dass ich extra für sie samstags noch vorbeikomme und nötigen mich, einen Doppelkorn mit ihnen zu trinken. Immerhin bin ich ja mit dem Fahrrad da, da geht das doch wohl. Eigentlich schade, den guten Blutgeschmack mit Korn zu versauen. Aber ich will nicht unhöflich sein.
Auf dem Heimweg spüre ich den Korn. Der Traktorfahrer hat Kopfhörer auf. Er bemerkt mein schwankendes Fahrrad nicht und biegt ab.
Schwarz.
Ich erwache im Schockraum des Krankenhauses. Ein Autofahrer hat mich vor der Notaufnahme abgeladen und ist davongebraust, erzählt man mir.
Ich erinnere mich an nichts.
Ich würde gerne die hübsche Krankenschwester mit dem Skalpell, welches da auf dem Tisch liegt, aufschlitzen. Ganz langsam, von unten nach oben. Doch ich halte mich zurück. Auch wenn ich sonst nichts weiß. Ich weiß, das hier ist weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt.
Ein Sozialarbeiter fragte mich, ob ich gerne eine Ausbildung machen würde, nachdem ich aus dem Krankenhau heraus war.
Ich wollte gerne Metzger werden und er beschaffte mir eine Lehrstelle in einem kleinen Familienbetrieb. Mein Chef ist sehr zufrieden mit mir. „Als ob du das schon immer gemacht hättest“, sagte er regelmäßig. Nach zweieinhalb Jahren hatte ich die Lehre abgeschlossen, fünf Jahre später meine Meister.
Als die einzige Tochter des Chefs spurlos verschwand und auch zwei Jahre später nicht wieder auftauchte, übernahm ich die Metzgerei. Aber alles bleib auf den Chef angemeldet. Telefon, Finanzamt, alles.
Er hat seine Tochter selbst in einer frischen Blutwurst verspeist. Zumindest Teile von ihr.
Doch nicht nur sie. Viele junge Frauen. Frauen, die nicht freundlich zu mir waren. Frauen, die mich nicht beachtet haben. Am Ende, als ich die Kreissäge eingeschaltet habe, haben sie mich beachtet. Haben mich angebettelt, sie zu verschonen. Nett zu ihnen zu sein. Haben mir angeboten, sich mir hinzugeben.
Doch da war es zu spät. Da ging es ihnen nicht um mich, um Kaspar. Da ging es ihnen nur um ihr erbärmliches, kleines Leben.
Aber ich habe weitergesucht. Im Netz. In sozialen Netzwerken. Auf Partnerbörsen. Doch nie mit meinem wahren Namen, nicht unter Kaspar Hauser.
Ich hatte vor 10 Jahren einen Neustart. Und den habe ich nicht versaut. Ich blieb ein Geist.
Vor kurzem habe ich gelesen, dass ältere Frauen verständnisvoller und offener sind. Also habe ich mein Profil geändert. Reiner – wie ich in den Partnerbörsen heiße – ist jetzt Mitte 40 und geschieden, aber kinderlos.
Heute treffe ich zum ersten Mal eine Frau, die älter ist als Mitte zwanzig. Ute, wie sie sich nennt, ist Anfang fünfzig und hat sich gut gehalten. Schreibt sie. Ich hoffe, sie lügt nicht.
Ute hat sich tatsächlich gut gehalten. Taufrisch ist sie nicht mehr, aber dennoch ansehnlich. Schlank und knackig an den richtigen Stellen. Sie wäre sicher recht problemlos zu zerteilen. Ich beobachte sie, wie Sie am Fenster der kleinen Pizzeria vorbei geht und schließlich das Lokal betritt. Der Kellner bringt sie zu meinem Tisch. Was ein großzügiges Trinkgeld ausmacht. Selbst wenn man zum ersten Mal in einem Restaurant ist. Mit einer Frau gehe ich niemals in ein Lokal, in dem man mich kennt. Und ich zahle immer bar.
Ich steh auf und deute einen Handkuss an. Das scheint ihr zu gefallen. Sie setzt sich und betrachtet mein Gesicht.
„Sie wirken jünger als 45“, sagt sie.
„Danke sehr“, erwidere ich. „Sie aber auch.“
Wir unterhalten uns gut und beschließen, nach dem Essen noch etwas spazieren zu gehen.
Ich begleite sie nach Hause. Sie bittet mich hinauf in ihre Wohnung. In dieser Nacht verliere ich – soweit ich das beurteilen kann – meine Jungfräulichkeit.
Am Morgen kuschelt sie sich an meine Brust. Die Decke rutscht etwas nach unten.
Sie stockt.
Sie hebt ihren Kopf und starrt mir ins Gesicht. Dann starrt sie wieder auf mein Muttermal.
Sie wird kreidebleich.
„Das, das … kann nicht sein!“, kreischt sie.
Sie zieht sich von mir zurück, schlingt die Decke um ihre Brust. „Du, du bist es tatsächlich. Ich wollte es nicht glauben. Doch du bist es. Oliver.“
„Wer ist Oliver?“
„Oliver. Mein Sohn.“ Sie kommt mir wieder näher. Tränen in den Augen. Will mir über die Wange streicheln. Es fühlt sich anders an. Nicht, wie vergangene Nacht. Sondern Liebe fordernd. Unterdrückend.
Ich schlage sie ins Gesicht. In den Bauch. Immer wieder. Bis sie sich nicht mehr bewegt. Flach atmend liegt sie neben mir im Bett. Ich fessle und kneble sie.
Im Bücherregal ein Fotoalbum. Bilder eines Jungen. „Oliver“ steht darunter. Arztbriefe. Briefe des Jugendamtes. Anwaltspost. „Dissoziale Persönlichkeitsstörung“ in Verbindung mit „narzisstischer Persönlichkeitsstörung“, lese ich überall. Der Junge hatte eine Lehre als Metzger gemacht und danach in einem Schlachthof gearbeitet. Eine Jugendstrafe wegen schwerer Körperverletzung mit Todesfolge. Zwei Tage vor Haftantritt war er spurlos verschwunden. Eine in zwei Hälften zerteilte Frau an seinem letzten Arbeitsplatz. Sie vermuteten, er habe die Frau ermordet. Ein Gutachter schreibt etwas von einer „überzogenen, zerstörerischen Mutterliebe“, die Schuld an seiner Erkrankung sei.
Es ist wieder dunkel geworden. Die nackte, gefesselte Frau ist erwacht und starrt mich mit angstgeweiteten Augen an. Ich habe meinen Lieferwagen geholt und sie in die Metzgerstube gebracht. Sie liegt auf der Kreissäge. Ich löse die Fesseln ihrer Beine und befestige sie an dem Schlitten. Dann ihre Arme. Schließlich spanne ich den Kopf fest. Der Schnitt muss gerade verlaufen. Dafür muss sie völlig ruhig liegen. Ich verspanne sie. Schmerzlaute durch den Knebel.
Ich schalte die Säge ein und starte den elektrischen Motor des Schlittens. Ihre Augen weiten sich. Immer weiter werden sie. Sie versucht zu schreien, als ihre Körpermitte sich unaufhaltsam auf das Sägeblatt zubewegt.
Der Fleischteig und die Wurstpelle liegen bereit. Morgen wird es wieder frische Blutwurst geben. Die Spezialität meiner Metzgerei.
Doch vorher genieße ich die wohligen Schauer des frischen Blutes auf meiner Haut, in meinem Mund. Ich erinnere mich an die Schauer der vergangenen Nacht. Auch die haben mir gefallen. Auch die werde ich wiederholen. Höchstwahrscheinlich schon sehr bald.
Vielleicht bringe ich meiner morgigen Verabredung eine Wurst mit.
Als ich mit meiner Arbeit fertig bin, schreibe ich ihr eine E-Mail und frage sie, ob sie Blutwurst mag. Sie schreibt zurück. Sie ist 25 und mag Wurst.
Ich glaube, ich mag sie.
Vielleicht werde ich mich in Zukunft Oliver nennen. Online, meine ich. Denn Kaspar Hauser gibt es ja dort nicht.
Frau Müller, die alte Damen aus dem Haus gegenüber, freut sich, dass es wieder frische Blutwurst gibt. Ich sage ihr, dass sie heute etwas reifer ist als sonst, während ich sie in Wickelpapier einschlage. „Aber absolut frisch und beste Bio-Qualität!“
Die alte Dame lächelt glücklich und zufrieden.
Ende
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